Von Dr. Peter Sandmeyer – Stern Autor
Stern Artikel aus Heft 51 / 2004
Ist es ein Ort? Ein Gefühl? Im Zeitalter von Globalisierung, Wirtschaftskrise und Wertewandel entdecken viele Deutsche, wie wichtig es ist, sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Heimat ist mehr. Mehr als Heim, mehr als Heimstatt, mehr als Heimatstadt, mehr als Heimatland.
Heimat ist eigen, konturlos, verschwimmend in Farben und Formen, ausufernd und ungreifbar wie ein Traum. Heimat ist Heimat, deutsch und unübersetzbar. „Heimat – A German Dream“ heißt ein englisches Buch. Die Autorinnen versuchen ihren Landsleuten das deutsche Wort mit den Begriffen „homeland“ und „roots“ nahezubringen – der Ort der Verwurzelung. Er ist für jeden ein anderer: das geduckte Dorf im Hunsrück, der Krabbenkutter-Hafen in Friesland, die Mietskaserne mit vier Hinterhöfen in Kreuzberg, die hohen Wälder Thüringens, Bayerns Alpenpräludium, Fachwerk im Harz, das flache Tellerland der Küstenköge, die grünen Hügel Hessens, die schwarze Zechensiedlung im Ruhrgebiet, die ausgefransten Kiefern der Mark Brandenburg, die dunklen Tannen des Schwarzwaldes, Nordseewatt und Ostsee-Bodden, Inselstrand und Weinberge, Ströme und Fabriken, Werften, Sägereien, Marktplätze, Villenprotz und Backsteinstrenge, Glaspaläste, Kirchturmglocken und Türme, kleine Häuser, große Häuser – Orte, wo Wurzeln haften.
Was ist Heimat?
Aber Heimat ist noch mehr. Die Erinnerung gehört dazu, die ins unterbewusste Gedächtnis eingebrannte Mischung aus Geschmack, Geruch, Geräuschen, der Duft von Bratwurst und Rotkohl auf dem Küchentisch, das grelle Gelächter der Möwen im Himmel, der Schrei der Bussarde, die hohen Wolken, die Luft, die nach salziger See riecht, nach Autoabgasen oder dem Morgennebel über herbstlichen Wiesen. Heimat ist Weißwurst und Weizenbier, der Dialekt der Kindheit, das Klopfen der Skatkarten auf dem Wirtshaustisch, die Lieblingsmusik der Eltern, das Gutenachtgebet, der Geruch von Lebkuchen und Weihnachtsbaum im Wohnzimmer und das Aroma der Sonntagsbrötchen.
Solange Heimat da ist, spürt man sie kaum. Wie gute Luft, die man atmet und für selbstverständlich hält. Erst wenn beides fehlt, erkennt man ihren Wert. Dann schmerzt die Lunge von Kneipenqualm und die Seele von Heimatverlust. „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, schrieb Theodor Fontane. In der Fremde hat ihn jeder schon erlebt, diesen plötzlichen Wärmestrom, wenn aus dem Radio in Singapur eine Bachkantate dringt oder jemand im amerikanischen Fernsehen Rilke zitiert. Deswegen ist Heimat auch umso schöner, desto weiter weg sie ist. Aus der Ferne sieht man keine fahle Haut, keine Falten. Ferne verklärt und macht sehnsüchtig. Manchen so sehr, dass er ohne Heimat nicht mehr leben will.
Er sei „erschöpft durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns“ und resigniert, „nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet“, schrieb der Emigrant Stefan Zweig, bevor er sich gemeinsam mit seiner Frau 1942 in Brasilien das Leben nahm. Ihre Sprache ist für viele der wichtigste Teil der Heimat. „Wenn ich daheim bin, versteht mich jeder sofort“, sagt der weltläufige Politiker Wolfgang Schäuble und bekennt, dass ihm diese „Geborgenheit in der Mentalität“ wichtig sei. So wie Hermann Hesses Peter Camenzind, der nach langer Weltwanderung zurückkehrt in die Berge und das Dorf seiner Kindheit: „Hier fällt es niemand ein, einen Sonderling in mir zu sehen.“ Keiner lacht heute mehr über solche Sätze.
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Online-Umfrage: „Perspektive Deutschland 2004“ will den Stärken und Schwächen deutscher Regionen auf die Spur kommen – mit Ihrer Hilfe. Heimat: Es ist noch nicht lange her, da war das „Heidi“ und „Der Förster vom Silberwald“ und „Die Sennerin von St. Kathrein“, da waren das die Vertriebenen und der Kanzler, der vor ihnen Durchhaltereden über „die Bindung an Werte und die urtümlichen Lebensformen unserer Heimat“ hielt. Heimat, das waren Trachtengruppe und Blaskapelle, Spießigkeit und Goldschnittgemüt, der Nachhall von nationalem Pathos und das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen sollte. Heimat war der erklärte Feind aller Spät-Achtundsechziger und anderer progressiver Weltbürger.