Ihre Heimat war da, wo die Rechnungen ankommen. „Heimat“, höhnte der „Spiegel“, „das ist der Lindenbaum, unter dem Vater Staat und Mutter Natur einträchtig im Kreis ihrer Lieben beieinander sitzen und sich freuen, dass alles ist und bleibt, wie es immer war.“ Dann kam 1984 „Heimat“, ein Titel so provokant wie programmatisch, die erste Staffel der TV-Chronik von Edgar Reitz über Schabbach, das fiktive Dorf im Hunsrück. Ein sensationeller Erfolg. 15000 Briefe erhielt Reitz. Jetzt, 20 Jahre später, folgt Teil drei der Heimat-Chronik (ab 15. 12., ARD), der die Jahre vom Fall der Berliner Mauer bis zur Jahrtausendwende beschreibt.

Und der Wert von Heimat ist in diesen Jahren noch gestiegen. 56 Prozent der Deutschen geben an, dass Heimat „eher an Bedeutung gewonnen“ hat, nur für 25 Prozent ist sie bedeutungsloser geworden. Längst sind auch die ehemaligen Spötter umgeschwenkt und heimgekehrt.Heimat ist salonfähig, vom Vertriebenentreffen bis zum Veteranenstammtisch des Frankfurter Häuserkampfes. Warum? Jedenfalls nicht, weil das wieder vereinte Vaterland von einem neuen kollektiven Heimatgefühl erfasst wäre. Im Gegenteil.

Die Atmosphäre im vergrößerten Heim der Deutschen ist ungemütlich geworden, muffig und frostig zugleich; so, als seien die Fenster zum Lüften lange nicht geöffnet worden, als stünden aber gleichzeitig zwei Türen weit offen, durch die scharfe Zugluft weht: Durch die eine wirbeln Investitionen und Arbeitsplätze hinaus, durch die andere ausländische Arbeitsemigranten hinein. Gleichzeitig haben viele Ostdeutsche Teile ihrer alten Heimat verloren, oft die Arbeit, manchmal nur die altvertraute Ost-Schrippe; aber der Verlust hat das Lebensgefühl erzeugt, sie seien Emigranten ohne Auswanderung. In solch einem Deutschland, einem frostig gewordenen Heim, sucht man nach warmen Winkeln, nach einem Mansardenstübchen mit Kachelofen. „Zwei Sprachen Land entfernt verwandt“, singt Herbert Grönemeyer, „an verschiedene Ufer gespült/zum gemeinsamen Gelingen verdammt/Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl.“ Ein Gefühl ohne Heimat.

Nur elf Prozent der Deutschen verbinden mit dem Begriff Heimat ihr Land. Für 89 Prozent werden Heimatgefühle ausgelöst von ihrer näheren Umgebung, von der Familie, dem Freundeskreis – dem geheizten Mansardenstübchen. In einem Internetforum lautet der Beitrag einer Vicky: „Wo ich mich geborgen fühle und Vertrauen habe, bin ich zu Hause. Heimat sind die Geborgenheitsnischen auf dem Lebensweg, in denen man dem eisigen Gegenwind entgehen, Kraft tanken kann, um ihm dann umso standhafter die Stirn zu bieten.“

Manchmal aber muss man die wärmende Nische der Heimat verlassen, um eine andere Heimat zu finden: den Ort, wo man Arbeit hat, sich verwirklichen und seine Familie ernähren kann, wo das Leben Sinngebung erfährt.

Aus diesem Grund ist heute fast jeder Zehnte in der Bundesrepublik ein Ausländer, sie alle suchten Arbeit – und brachten ihre eigene Heimat mit. Denn auch sie brauchen die Geborgenheit gegen den eisigen Wind, der ihnen entgegenwehte.

Darum riecht es auch in Schabbach nicht mehr nur nach Eichenwald und Erbsensuppe, sondern längst auch nach Döner und Kebab. Selbst im kleinsten Dorf gibt es nicht mehr Heimat, sondern Heimaten. Und je stärker der Druck auf sie wird, durch Kopftuch-verbote oder verordnete Leitkultur, desto erbitterter werden sie verteidigt. Deswegen ist eine besondere Heimat nie über das Stadium des schönen Traumes hinausgekommen:

„Heimat Babylon“, das muntere Multikulti-Miteinander, das dem damaligen Frankfurter Stadtrat und heutigen Europa-Abgeordneten der Grünen Daniel Cohn-Bendit vorschwebte, als er 1992 sein gleichnamiges Buch herausbrachte. Eine Heimat, in der „Türken Türken und Taubenzüchter Taubenzüchter und Lesben Lesben bleiben können und alle friedlich miteinander leben“. Und nebenher ein neues, übergreifendes Wir-Gefühl entwickeln.

Schon damals hielt ihm der erfahrene Ethnologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in einem Streitgespräch entgegen, dass „von den kleinsten Buschmann-Gruppen über große Stammesgesellschaften bis zu ganzen Staaten überall das Familienethos, die Geborgenheit und das Gesetz der Kleingruppe auf die Großgruppe übertragen wird. Dahinter scheint ja ein menschliches Grundbedürfnis zu stecken“.

Je schärfer der Wind der Globalisierung weht, desto deutlicher äußert sich dieses Grundbedürfnis. Das ist der eigentliche Grund für die Heimat-Hausse. „Der Prozess, den wir mit Globalisierung bezeichnen, ist tatsächlich ein doppelter“, schreibt der Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf. „Während bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten immer weitere Räume zu ihrer Entfaltung brauchen und dabei jede Bodenhaftung verlieren, suchen Menschen immer kleinere Räume, in denen sie sich zu Hause fühlen und ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln können.“